Wallgau 1969
Wallgau 1969
Im Sommer 1969 wurden meine Schwester (4/5 Jahre alt) und ich (6 Jahre alt) für 6 Wochen aus dem Ruhrgebiet nach Wallgau ins Allgäu verschickt. Wir waren Jahre später außerdem noch auf Juist, St. Peter Ording und auf Amrum. Die Gründe dafür wurden meiner Meinung nach vorgetäuscht, denn meine Eltern waren, zumindest während wir in Wallgau waren, selbst im Urlaub. Außerdem waren wir gesund wie die Fische im Wasser und hatten keine körperlichen und seelischen Gebrechen. Deshalb denke ich, dass manche Ärzte solche Kuren verschrieben, obwohl eigentlich gar kein Grund vorlag. In diesem Fall war das Frau Dr. Wille in Bochum mit ihrer Praxis an der Oskar-Hoffmann-Straße.
Wir wurden mit einer fremden Frau in den Zug gesetzt. Plötzlich waren die Eltern weg. Wir fuhren lange irgendwohin, und ich kann mich erinnern, dass ich überhaupt nicht verstand, was da vor sich ging. Nach ewig langer Fahrt kamen wir an, und es war ein einziges Gewusel und Gedränge an diesem kleinen Bahnhof. Die ältere Frau fand unsere Betreuer nicht und ließ uns am Bahnhof „mutterseelenallein“ stehen. Diese Angst kann man gar nicht beschreiben, die einem da widerfährt.
Das Heim selbst war eigentlich ganz schön. Allerdings waren unsere Betreuerinnen viel zu jung und unerfahren:
- Meine Schwester wurde von mir getrennt, weil sie sehr viel Heimweh hatte und sich nicht alles gefallen ließ von den Betreuerinnen und eine davon in den Handrücken gebissen hatte.
- Mittagsschlaf auf dem Balkon, Augen zu, ob man wollte, oder nicht.
- Toilettengang häufig zu spät, man nässte oder kotete ein.
- Alles musste gegessen werden, falls nicht, musste man so lange sitzen, bis man gegessen hatte.
- Viel zu wenig zu trinken. Alle Kinder bekamen, trotz Sommerhitze, nur einmal zwischendurch ungesüßten Tee. Wir stürmten dazu völlig verdurstend in die Küche, wo uns mit einer Kelle Tee in die Becher gefüllt wurde.
Das Schlimmste dabei war aber das Heimweh und das Gefühl des Verlassenseins und der Ohnmacht gegen Ungerechtigkeiten und der Willkür. Über Vieles habe ich mich mit meiner Schwester ausgetauscht, allerdings kann ich mich natürlich an viel mehr erinnern, als sie.
Als wir zurückkamen, sprachen wir mit bayrischem Dialekt, meine Schwester war so wund, dass sie sofort zur Ärztin musste. Ich kann bis heute nicht verstehen, dass man so kleine Kinder ohne ihre Bezugspersonen wegschicken durfte. Vieles muss man auch mit den eigenen Eltern ausmachen. Wir haben das auch zu Hause später angesprochen, allerdings zeigte sich nur eine sehr eingeschränkte Einsicht seitens meiner Mutter. Mein Vater ließ sich dazu gar nicht aus. Noch heute denken meine Schwester und ich an diese Zeit mit viel Unbehagen zurück.