Alles aufessen

Alles aufessen

Als Korbi sechs war, also er war da gerade in der Volksschule, da fing das an, aber richtig beobachtet haben wir das erst mit sieben und mit acht war er dann richtig krank. Er sah ziemlich bleich aus, wog weniger als sonst, wurde immer häufiger ohnmächtig, starrte in die Gegend und konnte eigentlich fast gar nichts mehr behalten. Irgendwann viel zu spät hat unsere Hausärztin eine schwere Anämie diagnostiziert. Nachdem er zwei Jahre lang mit Lebertran gequält wurde, stellte man fest, dass es darum gar nicht ging. Irgendwann hat er mir heulend erzählt, dass die anderen Jungs ihn fast jede Woche einmal verprügelt haben. Das war ja einfach. Das war ja billig. Der war viel zu schwach, um sich zu wehren. Da konnte man schon stark tun. Irgendwann war die eigentliche Krankheit im Griff, aber er musste dringend aus der Schule raus und in eine Kur. Es geht in den Schwarzwald, sagten unsere Eltern. Freust du dich nicht? Das Kind kriegte ein rotes Pappschild um den Hals und wurde mit Koffer in den Zug geschoben. Beim Umsteigen war da eine Tante von der Bahnhofsmission, die ihm ein Glas Wasser gab und es in den nächsten Zug schob. Heute kann ich das gar nicht mehr glauben, dass man so kleine Kinder so schrecklich behandelt hat. In Freiburg wurden er dann abgeholt, auch andere Kinder ähnlich durcheinander wie er, und mit einem Omnibus durch endlose Kurven bis zum Tittisee gebracht. Schon auf dieser Fahrt musste der Bus dreimal halten, weil jemand kotzen musste. Das Kurhaus war ein riesiger Klotz, der allein am Seeufer stand. Am Haupteingang erwarteten sie zehn katholische Schwestern. In ihren Hauben sahen sie aus wie Vögel, die zu viel gefressen hatten. Die Neuen kamen in einer Halle zu sitzen, bekamen einen wässrigen Hagebuttentee hingestellt und mussten sich mehr als eine Stunde die Regeln, die Verbote und die Liste der Strafen anhören, die sie in den nächsten drei Wochen erwarten würden. Korbi erzählte mir später, dass ein bestimmtes Lächeln sehr bedrohlich war. Das lernte er hier schnell. Irgendeine Strafe war im Anmarsch, auch wenn er den Grund nicht wußte. Nach dem Abendessen durfte keiner mehr raus. Draußen liefen tatsächlich scharfe Hunde rum, von denen einer die ganze Nacht bellte. Das war ganz schön unheimlich. Korbi fühlte sich elend. Alles fremde Menschen und besonders von den Frauen harte Kommandotöne. Er war in einer Gruppe von 20 Jungens. Essen, laufen, schlafen, alles musste man zusammen, ob man wollte oder nicht. An jedem Wochentag gab es morgens mittags und abends dasselbe. Alles musste aufgegessen werden. Samstags z.B. gab es immer Bechamelkartoffel mit roten Beeten. Die Kartoffel waren verkocht und matschig. Der blutrote Saft mischte sich mit der Mehlschwitze zu einer eitrigen Brühe. Ein Kind begann zu kotzen. Das dauerte nicht lange, dann mussten sieben andere aus der Gruppe auch kotzen. Korbi war natürlich dabei. Die Schwestern waren wütend. „Ihr habt es gut. Ihr habt täglich zu essen. Nicht wie die armen Heidenkinder. Im Krieg hätte man sich die Finger danach geleckt, wenn man sowas bekommen hätte“. Die Kinder saßen unglücklich vor den Tellern. „Ihr bleibt hier jetzt so lange sitzen, bis ihr das aufgegessen habt“. donnerte die Küchenschwester. Vier entsetzlich lange Stunden saßen die acht Unglücksraben vor ihrem Teller mit der Kotze. Dann durften sie sich die Hände waschen, weil es Abendessen gab. Niemand brachte etwas herunter. Ab da ging das so jeden Samstag, weil jeden Samstag gab es wieder diese schleimigen Kartoffel mit der blutigen Brühe. Er würde nie mehr im Leben Rote Bete anrühren. Dass er unglücklich sei, Korbi schrieb eine Karte an seine Eltern, dass er nach Hause wolle. Telefonieren gab es damals nicht. Erst recht keine Gute-Nachtgeschichten am Handy. Es gab vier Wochen lang überhaupt keinen Kontakt. Nachmittags zum Blümchenkaffee mit staubtrockenem Streuselkuchen wurde die Post ausgeteilt. Endlich lag da diese grüne Karte, die es bei der Bundesgartenschau 1957 umsonst gab und Korbi wusste, dass die Eltern geschrieben hatten. Zitternd holte er sie sich aus dem Stapel auf dem Tisch. Er konnte gar nicht glauben, was da stand. „Freust du dich nicht? Wir konnten die Kur nochmals verlängern. Du darfst noch mal vier Wochen an diesem schönen Ort bleiben“. Das Herz sank ihm in die Hose. Irgendwer flüsterte ihm zu: „Die haben unsere Karten kontrolliert. Wenn du da was Falsches schreibst, dann wird die sofort aus dem Verkehr gezogen.“ Er wusste gar nicht, wie er das aushalten sollte. Die Eltern waren so unerreichbar wie die Sterne, die er vom Fenster aus sehnsüchtig anstarrte, wenn er nicht schlafen konnte, weil dieser blöde Hund schon wieder die ganze Nacht durchheulte. Er floh in sein Lieblingsspiel: Verstecken. Da konnte man einen Nachmittag lang einfach untertauchen. Er wusste genau, wie man sich zum Verschwinden bringt, unsichtbar wird. Er lernte intuitiv, wie man sich im Wald ohne Hilfsmittel orientiert. Darin war er später unschlagbar. Mit ihm habe ich mich noch nie verlaufen. Er konnte sich bestimmte Bäume an ihren Ästen und den genauen Verlauf von zwei Bächen merken und sah bald am Gras und den Spinnweben, ob er hier schon gelaufen war. Er legte sich an verschiedenen Stellen Hölzer auf markante Steine, um den Weg absolut sicher zurückzufinden. Sie suchten oft Stunden nach ihm, erzählte ermir stolz. Einmal setzten sich sogar die Schwestern in Gang, leider auch mit einem Hund an der Leine. Da lief er von hinten um diesen schrecklichen Klotz herum und tat so, als sei er schon lange dagewesen. Trotzdem gab es dann mal wieder keinen Nachtisch für ihn. Geglaubt wurde hier niemandem und er begann ebenfalls, niemandem mehr zu glauben, nach dieser Postkarte auch unseren Eltern nicht. Als er nach Hause kam, war er noch schweigsamer, als vorher. „Du starrst schon wieder Löcher in die Luft“. „Hans guck in die Luft, wo bist du?“ Es schien ihm besser, im eigenen Kopf zu leben, als in dieser verlogenen Wirklichkeit. Wenn er alleine war, fing er an, mit sich zu reden, wenn es sonst schon keiner tat. Die Geschichten von Eichhörnchen, Ameisen und Regenwürmern wimmelten durch seinen Tag. Tiere, ja die Tiere waren seine besten Freunde. Selbst, wenn sie bissen oder stachen, wusste man, woran man war. Aber sie mussten wild und frei sein. Als er bei seinem Freund, als der gerade mal Nebenzimmer war, dem Kaninchen die Käfigtür öffnete, konnte er gar nicht verstehen, dass dieses Tier ihn erschrocken anschaute und nicht hinauswollte. Dann kam der Freund wieder rein und machte ihm ein riesiges Theater, das ihm beinahe sein Kuscheltier verloren gegangen wäre. Korbi wusste genau. Das ist ein richtiges Tier. Das ist kein Kuscheltier. Das fühlt genauso stark wie wir, dass es Freiheit braucht. Zwei Wochen wollte er nicht mehr mit dem Freund spielen. Ich habe ihm paarmal gesagt. « Das ist der einzige Freund, den du noch hast. Du brauchst Freunde ». Da fing er an zu heulen und erzählte mir diesen ganzen Schlamassel von der Kur. Ich konnte es nicht fassen. Diese katholischen Schwestern. Das war geradezu gewissenlos, wie sie mit den Kindern umgegangen sind, aber auch meine Eltern habe ich nicht verstanden. Hatten sie gar kein Gespür dafür, dass es ein zehnjähriger Junge nicht allein zwei Monate in der Fremde aushält. Brauchten Sie das nicht selber, zu wissen, wie es ihrem Kind geht? Erst viel später wurde uns beiden klar, wie vieles kaputt war in den Herzen der Eltern, ein Uhrwerk, das hart hingefallen und nicht mehr zusammengebaut werden konnte. Sie hätten selber Hilfe gebraucht.

 

Übergeordnetes Dokument:"Tanten = Wärterinnen